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Nein!
Nein! Ich will es nicht sehen! Aber es treibt mich weiter. Unerbittlich.
Ich habe Angst.
Eben hatte ich noch im Besucherstrom ausgeharrt, unruhig, nervös. Die
Menschen um mich erlaubten kein Zögern, machten ein Ausbrechen
unmöglich. Mechanisch, verlangsamt wie in einem Traum, halte ich nun
meine Eintrittskarte hoch. Eine Ecke wird abgerissen: nachlässige
Alltagsroutine. Doch das Geräusch des reißenden Papiers schlägt so
brutal auf mein Bewusstsein, dass ich stolpernd weiter taumle. Und der
das gemacht hat, ahnt nicht, was dieses so nebenbei Abgetrennte für
mich bedeutet. Denn auf diesem kleinen Fetzen rosafarbener
Alltagsroutine, der in dieser fremden Hand zurückbleibt, steht meine
ganze Zukunft...
Die letzte Stufe. Atemlos bleibe ich stehen, lasse die Menschen vorbei,
die sich drängend gegenseitig hindern die Bilder an den Wänden zu
betrachten, als wäre es eigentlich verboten. Sie überlassen ihren
suchenden Blick dem würfelnden Zufall. Ihre Augen quälen sich gierig
und doch unbefriedigt hinauf an zusammenhanglosen Bilderbruchstücken.
Und die eigentlich verschwenderische Geräumigkeit der Säle zieht sich
durch dieses gereizte Beisammenstehen zur drangvollen Enge zusammen.
Mein Hemd klebt mir am Körper. Dieses eigenartige, zäh schläfrige
Zeitgemisch, das allen Museen zu eigen ist, hält mich von den Schläfen
bis zu den Knöcheln umfangen. Dieses so eigenartige, verwirrende
Gefühl, wenn Vergangenheit vor einem steht...
Wie gehetzt durchquere ich mehrere Säle, vorbei an zahlreichen
Gemälden in deren spiegelndem Glas ich meine Gestalt vorbeihasten sehe.
Saal Nr. 12. Hier war es gewesen damals, wo es mir nur mit
äußerster Anstrengung, ja Aufbegehren gelungen war, auszubrechen,
diesem Bannkreis zu entkommen.
Saal Nr. 12, der damals augenblicklich seine elektrisierende Atmosphäre
um mich gelegt hatte. Mein Wesen, zum Hintergrund degradiert, verharrte
gehorsam, meine Sinne gaben sich diesem alles beherrschenden Raum
widerstandslos hin.
Nein! Nein! Ich wollte es nicht sehen, dieses Bild! Und doch! Dieses
Bild, vor dem ich dann wenig später gestanden hatte, und mein Blick
waren aufeinander zu gerast, fugenlos ineinander gerastet
untrennbar. Dieses Bild hatte sich mit meinem Leben gekreuzt, wie die
Klingen zweier Messer! Mit einer herausfordernden Bewegung hatte es mir
mein Eigenstes aus der Hand geschlagen, und statt dessen war das
metallische Aufblitzen eines fremden Willens in mich eingedrungen, der
mein Leben von nun an zu einem Kampfplatz machte.
Nervös betrete ich Saal Nr. 12. In diesem Saal gibt es nichts Zähes,
Schläfriges. Denn seine Bilder durchbrechen dieses mürbe, vergilbte
Gewebe der Vergangenheit mit einem kraftvollen Ausatmen, das wie ein
Schrei den Saal mit ungeheurer Spannung füllt.
Durch die Milchglasscheiben des großen Oberlichts fällt gedämpftes
Sonnenlicht. Die mit dunkelrotem Stoff bespannten Wände werfen das
Licht in unzähligen Rot-Nuancen auf den glänzenden Steinfußboden, der
in diesem Meer an Rot zu glühen scheint.
Der Saal ist voll mit Besuchern. Ihr halblautes, belehrendes Gemurmel,
ihre rauschhaft überspannte Begeisterung macht mich aggressiv. Ich
empfinde ihre Anwesenheit wie einen gierigen, schamlosen Betrug. Und ich
muss mich aufs Äußerste beherrschen, um nicht laut heraus zu schreien,
dass sie alle nicht hierher gehören...
Nein! Nein! Ich will dieses Bild nicht sehen!
„Du weißt doch, dieses Bild will dich so krank machen, dich vernichten, so wie
den, der es geschaffen hat; will, dass du nicht mehr fähig bist, zu
unterscheiden, zwischen Jetzt und Erinnerung, zwischen Wahrheit und Täuschung...
„Das Produkt eines Verrückten!, höre ich sagen.
„Nein, nein, dies ist die unverstandene Vision eines Genies!
Die Menschen, die kommen und gehen, schieben mich weiter. Ich mache ein
paar zögernde Schritte, bleibe stehen, drücke mich gegen die Wand.
Weiß ich es besser? War es denn nicht eine langsam verlöschende Seele,
und er hatte sich nicht mehr dagegen wehren können...
Ich lege meine schweißfeuchten Hände auf den Rücken, um ihr Zittern
zu verbergen, fühle den rauen Stoff der Wandbespannung, merke wie meine
Finger Halt suchen an Irgendetwas. Fest lehne ich mich gegen die Wand,
schließe die Augen, warte bis ich sicher sein konnte, dass das Bild von
Besuchern verdeckt sein würde. Doch dieses Bild lässt sich nicht
verleugnen. Dieses Bild sucht noch immer...
Langsam versuche ich meine Augen zu öffnen, denn der Schwebezustand
dieser Empfindung, das Bild in unmittelbarer Nähe zu spüren und es
nicht anzusehen, wird unerträglich.
Dieses Bild! Dieses Gesicht! Für den gewöhnlichen Sinn des Sehens ist
dieses Bild unerreichbar. Für den gewöhnlichen Sinn des Sehens ist es
ein Sprung ins Leere...
Dieses Gesicht! Es anzusehen gleicht einem Lauf durch ein Labyrinth, um
dann urplötzlich in haltlose Wut auszubrechen über das
Nicht-finden-können des Wesentlichen. Nur das Gegenteil und immer
wieder das Gegenteil: die endlos gesteigerte Leidenschaft des Verlustes.
Wollte er sich überhaupt von diesem Schmerz befreien? Nein! Ihm war es
leichter gefallen, diese Welt zerfallen zu sehen und dann ein Chaos
vorzufinden...
Alles ist plötzlich in diese staubtrockenen Farben gehüllt. Farben,
die sich langsam zu entfernen scheinen, fortgehen in eine andere Welt...
Dürres Grau, ausgetrocknetes Blau und ein Orange das auflodert, als
hätte man etwas Brennbares in eine Glut geschüttet. Farben, wie vom
berüchtigten Mistral der Provence ausgetrocknet, die sich in die Augen
des Betrachters streuen wie Sandkörnchen und den Blick trüben mit
emporschießenden Tränen. Und diese ungehaltene Abwehr nimmt der Blick
des Gesichtes auf diesem Bild auf: gezackter Zorn der über den
Augenbrauen steht, sich ständig ändernd. Und dieses Übermaß an
Unbeständigkeit drängt sich im Hintergrund des Bildes: eine
eigenartige, nur vorgetäuschte Unsicherheit an der der Betrachter, sich
überlegend fühlend, hängen bleibt, unbewusst etwas aufnimmt von
diesem geballten Zorn. Und der Blick stolpert, bedrängt vom völlig
unerwarteten Blick dieses Gesichtes, der alle Sinne hart anfasst, ihnen
das Äußerste abzupressen...
Nein! Nein! Ich will es nicht sehen!
Will nicht sehen, wie er eben noch die Hände auf die Augen gepresst
hatte, um die flirrenden Lichtpunkte der grellen Mittagssonne zu
vertreiben, um die Tränen auf den Wangen abzuwischen...
Langsam ließ er die Arme fallen. Vor ihm stand auf der Staffelei die
blendend weiße Leinwand, auf die durch das weit geöffnete Fenster die
Mittagssonne schien, und sie zu einer vibrierenden, unerträglichen
Helligkeit machte, die sich weigerte auch nur durch einen einzigen
Pinselstrich ihre Reinheit preiszugeben. Er hatte Pinsel und Palette in
rasender Wut von sich geschleudert und starrte mit tränenfeuchten,
brennenden Augen abwechselnd auf die weiße, unberührte Leinwand und
auf den im Sonnenlicht aufleuchtenden Sonnenblumenstrauß in der
dunkelblauen Vase. Er sah abwechselnd das fertige Bild, das in ihm
bereits vollendet war und die reine Leinwand, die sich ihm verweigerte.
Immer intensiver vermischte sich sein Gedankenbild und die hell
leuchtende Fläche der Leinwand zu einem sonderbaren Zwitterwesen aus
unberührter Reinheit und ungezügeltem Farbenrausch.
Mit einer heftigen Bewegung riss er den Spiegel über der Waschschüssel
von der Wand, stellte ihn auf einen Stuhl neben die Staffelei. Sein
Spiegelbild! Die leere Leinwand! Und befriedigt fühlte er, es würde
ein gnadenloser Kampf werden: er gegen die Reinheit des Lichts! Er
wollte, dass das Licht unter dem Druck seiner Pinselstriche gefügig
wurde, sich seinem Willen unterwarf, sich fügte, einfügte in die
starken Arme seines Könnens, aufgelöst in der Übermacht seiner
maßlosen Leidenschaften. Doch es war ein ungleicher Kampf. Denn sein
Gegner brauchte nicht zu kämpfen. Es war sein Dunkel das kämpfte, das
aus ihm heraus drängte, ausgeschwitzt aus der Hölle der
Leidenschaften, um sich in einem Farbenrausch müde zu ringen, um
einigermaßen beherrschbar zu werden, um nicht zu werden wie Öl in
einer Flamme...
Er nahm einen neuen Pinsel, hob einen Teil der zerbrochenen Palette vom
Boden auf: Blau und Grün und ein kleiner Rest flammendes Orange...
Dieses Gesicht!
...das äußerste Endliche:
Das Bild eines endlos gesteigerten Verlustes. Das Bild eines
Vereinsamten, eines Verschwenders, der seine Leidenschaften zu einer
Größe zusammenzwingt, die man Welt nennen darf.
Doch an einer Stelle ist dieses Endgültige verletzbar, ist es
verunsichert, nur scheinbar verborgen. Eine Sollbruchstelle die etwas
auseinander hält, offen hält, eine Wendung von Licht nach Schatten:
Die Kontur seines leicht geöffneten Mundes. Und das war es, was mich
hierher getrieben hatte...
Er hatte über sich hinaus geschaffen, so musste diese Bruchstelle
werden. Und sie ist auch eine Grenze, die dem Maßlosen den scheinbaren
Überfluss seiner Freiheit genau absteckt.
Er hatte etwas geschaffen vor dem er sich fürchtete, denn dieses Etwas,
das sich in seinem Körper fortbewegte wie eine Krankheit, hatte das
bewirkt. Und er unterwirft sich, verpfändet sich an diese andere
Wahrnehmung mit übergroßen, aber unreifen Sinnen, jene mit dem
bitteren Geschmacks des Wahn-Sinns der ihm befahl, seine eigenen Sinne
zum Schweigen zu bringen. Ist es denn dieselbe Kraft, die ihm sein
Können gegeben hat und die ihn nun langsam zerstörte? Eine Kraft aus
ein und demselben Ursprung? Diese Kraft hatte aus ihm einen Flüchtling
gemacht, einen Vogelfreien, ein Gesetzloser, der nun weiter ging in
einer ungeordneten, gesetzlosen Welt, wo er Verurteilter und
Vollstrecker war...
Er betrachtete sein Spiegelbild, lange, sehr lange: waren das Augen, die
Ungetrübtes sehen? Er trat vor die Staffelei und setzte den ersten
Strich. Er malte mit heftigen, weit ausholenden Bewegungen, rang nach
Atem in unglaublicher Anstrengung. Die Ferne zwischen ihm und der
Unmöglichkeit das Vollkommene zu erreichen, wollte er dennoch
aufbrauchen. Ein Rasender, der gewagt hatte, dorthin zu treten wo er
noch keinen Boden sah. Nur so konnte er sehen, was da in ihm aufgewacht
war. Nur so konnte er erkennen, welcher Sinn sich ihm als nächster
verweigern würde...
Dieses Bild stellte er vor sich hin wie einen Schild, um dieses
Entfesselte abfangen zu können, dieses nicht mehr zu überwachende
Bewusstsein...
Er hielt inne: Für Augenblicke hatte er eine Verbindung gefühlt, mit
einer Stelle in ihm, die ihm völlig unbekannt war! Ihm, der jede Faser
seines Wesens mit der dunkelroten Schwere der Leidenschaft durchtränkt
hatte, fühlte eine Stelle, an die sich seine Leidenschaften nie gewagt
hatten: Das Unauslöschliche, Unzerstörbare? Ein innerster Bereich,
über den er nie verfügen würde? Der unangetastet bleibt von jeder
Bewegung? Hatte er denn nicht ein Recht darauf? Durch sein Werk? Durch
die winzige Spanne Unvergänglichkeit, um die ihn sein Werk überleben
würde?
Ich mache einen Schritt nach vorne. Die Menschen bilden eine schmale Gasse.
Ganz nahe trete ich an das Bild heran. Dieses Gesicht! Ich hebe meine
Hand, bin versucht mit dem Finger die Linie des leicht geöffneten
Mundes nachzufahren, möchte es wieder und wieder, bis diese Lippen sich
bewegen, sich öffnen, um den Gedanken zu formen, auszusprechen, der in
ihm war, da er sich malte... Ich hebe die Hand. Irgendwer zieht drohend
die Augenbrauen hoch. Ich hebe die Hand und lege meinen rechten
Zeigefinger auf meine heißen ausgetrockneten Lippen. Das Erlebbare
hatte er, habe ich ausgekostet... Dieses Gesicht! Diese Augen, die keine
Sicherheit mehr fanden im Sichtbaren. Ich presse meine Hand auf den
Mund. Entsetzt spüre ich, wie mein Bewusstsein und das Gesicht auf dem
Bild aufeinander prallen, sich auflösen, ineinander über gehen,
verschmelzen... Ich schlage die Hände vor mein Gesicht. Mein
Gesicht?
Dieses Gesicht! Diese flammend roten Haare und der Bart! Nein! Nein! Ich
will es nicht sehen! Nie mehr!
Hinter mir ist es still. Hatte ich geschrien? Ich weiß es nicht. Oder
war er es gewesen? Ich sehe wie er an der Staffelei steht...
Das Hemd klebte ihm am Körper. Seine Schultern hoben und senkten sich
rascher und rascher im Rhythmus seines heftigen Atems. Durch das weit
geöffnete Fenster wehte unaufhörlich der trockene, heiße Mistral.
Nun der Mund! Er fuhr mit dem linken Zeigefinger am kühlen Glas des
Spiegels entlang, fuhr die Linie des Mundes seines Spiegelbildes nach,
wieder und wieder, bis die Bewegung des leicht geöffneten Mundes seinen
ganzen Körper durchströmte und er diese Kraft in das Bild hinein nahm:
ein Riss, eine offene Stelle, eine Bruchstelle, die das Gesicht zu einer
Form machte, die im Begriff war zu bersten, um dem bereits zersprungenem
Inneren Platz zu machen. Eine Sollbruchstelle.
Er hielt inne, legte Pinsel und Palette zur Seite, sah auf die Leinwand,
die im gleißenden Licht der Mittagssonne stand: Ja, ja das war er! Er
hatte es geschafft! Er hatte ihn festgehalten diesen Gedanken, hatte das
Unfassbare eingegrenzt, damit es seine Stunde abwarten konnte, die er
ihr nicht mehr zu geben im Stande war...
Dieses Gesicht! Diese, durch das Auseinanderbersten seines Inneren,
metallisch aufblitzenden Augen, spiegeln heimatlose Kräfte wider. Das
Unauslöschliche? Hier nun musste ein neuer, anderer Wille einsetzen, um
über die Grenze treten zu können... Er stand mit hängenden Armen,
abwartend. Hier endete der Strom, der ihm die Möglichkeiten zugetragen
hatte...
Ich stehe und warte. Stehe mit hängenden Armen.
Langsam drehe ich mich um, sehe die Menschen vor mir. Sie weichen kaum
merklich zurück. Wortfetzen: Werbegag, Action Art, ein Verrückter...
Ich gehe unsicher Schritt für Schritt, als müsste ich wie nach langer
Zeit erst wieder das Gehen lernen, gehe vorbei an den Menschen, an den
zahlreichen Gemälden, in deren spiegelndem Glas ich meine gebückte
Gestalt und mein Gesicht sehen konnte:
Dieses Gesicht! Diese Augen! Diese flammend roten Haare und der Bart!
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