Gedichtsband

     Kurzgeschichte


Gedichte

Sollbruchstelle

 

 

Nein! Nein! Ich will es nicht sehen! Aber es treibt mich weiter. Unerbittlich. Ich habe Angst.
Eben hatte ich noch im Besucherstrom ausgeharrt, unruhig, nervös. Die Menschen um mich erlaubten kein Zögern, machten ein Ausbrechen unmöglich. Mechanisch, verlangsamt wie in einem Traum, halte ich nun meine Eintrittskarte hoch. Eine Ecke wird abgerissen: nachlässige Alltagsroutine. Doch das Geräusch des reißenden Papiers schlägt so brutal auf mein Bewusstsein, dass ich stolpernd weiter taumle. Und der das gemacht hat, ahnt nicht, was dieses so nebenbei Abgetrennte für mich bedeutet. Denn auf diesem kleinen Fetzen rosafarbener Alltagsroutine, der in dieser fremden Hand zurückbleibt, steht meine ganze Zukunft...
Die letzte Stufe. Atemlos bleibe ich stehen, lasse die Menschen vorbei, die sich drängend gegenseitig hindern die Bilder an den Wänden zu betrachten, als wäre es eigentlich verboten. Sie überlassen ihren suchenden Blick dem würfelnden Zufall. Ihre Augen quälen sich gierig und doch unbefriedigt hinauf an zusammenhanglosen Bilderbruchstücken. Und die eigentlich verschwenderische Geräumigkeit der Säle zieht sich durch dieses gereizte Beisammenstehen zur drangvollen Enge zusammen.
Mein Hemd klebt mir am Körper. Dieses eigenartige, zäh schläfrige Zeitgemisch, das allen Museen zu eigen ist, hält mich von den Schläfen bis zu den Knöcheln umfangen. Dieses so eigenartige, verwirrende Gefühl, wenn Vergangenheit vor einem steht...
Wie gehetzt durchquere ich mehrere Säle, vorbei an zahlreichen Gemälden in deren spiegelndem Glas ich meine Gestalt vorbeihasten sehe.
Saal Nr. 12. Hier war es gewesen damals, wo es mir nur mit äußerster Anstrengung, ja Aufbegehren gelungen war, auszubrechen, diesem Bannkreis zu entkommen.
Saal Nr. 12, der damals augenblicklich seine elektrisierende Atmosphäre um mich gelegt hatte. Mein Wesen, zum Hintergrund degradiert, verharrte gehorsam, meine Sinne gaben sich diesem alles beherrschenden Raum widerstandslos hin.
Nein! Nein! Ich wollte es nicht sehen, dieses Bild! Und doch! Dieses Bild, vor dem ich dann wenig später gestanden hatte, und mein Blick waren aufeinander zu gerast, fugenlos ineinander gerastet  untrennbar. Dieses Bild hatte sich mit meinem Leben gekreuzt, wie die Klingen zweier Messer! Mit einer herausfordernden Bewegung hatte es mir mein Eigenstes aus der Hand geschlagen, und statt dessen war das metallische Aufblitzen eines fremden Willens in mich eingedrungen, der mein Leben von nun an zu einem Kampfplatz machte.
Nervös betrete ich Saal Nr. 12. In diesem Saal gibt es nichts Zähes, Schläfriges. Denn seine Bilder durchbrechen dieses mürbe, vergilbte Gewebe der Vergangenheit mit einem kraftvollen Ausatmen, das wie ein Schrei den Saal mit ungeheurer Spannung füllt. 
Durch die Milchglasscheiben des großen Oberlichts fällt gedämpftes Sonnenlicht. Die mit dunkelrotem Stoff bespannten Wände werfen das Licht in unzähligen Rot-Nuancen auf den glänzenden Steinfußboden, der in diesem Meer an Rot zu glühen scheint.
Der Saal ist voll mit Besuchern. Ihr halblautes, belehrendes Gemurmel, ihre rauschhaft überspannte Begeisterung macht mich aggressiv. Ich empfinde ihre Anwesenheit wie einen gierigen, schamlosen Betrug. Und ich muss mich aufs Äußerste beherrschen, um nicht laut heraus zu schreien, dass sie alle nicht hierher gehören...
Nein! Nein! Ich will dieses Bild nicht sehen!
„Du weißt doch, dieses Bild will dich so krank machen, dich vernichten, so wie den, der es geschaffen hat; will, dass du nicht mehr fähig bist, zu unterscheiden, zwischen Jetzt und Erinnerung, zwischen Wahrheit und Täuschung...
„Das Produkt eines Verrückten!, höre ich sagen.
„Nein, nein, dies ist die unverstandene Vision eines Genies!
Die Menschen, die kommen und gehen, schieben mich weiter. Ich mache ein paar zögernde Schritte, bleibe stehen, drücke mich gegen die Wand. Weiß ich es besser? War es denn nicht eine langsam verlöschende Seele, und er hatte sich nicht mehr dagegen wehren können...
Ich lege meine schweißfeuchten Hände auf den Rücken, um ihr Zittern zu verbergen, fühle den rauen Stoff der Wandbespannung, merke wie meine Finger Halt suchen an Irgendetwas. Fest lehne ich mich gegen die Wand, schließe die Augen, warte bis ich sicher sein konnte, dass das Bild von Besuchern verdeckt sein würde. Doch dieses Bild lässt sich nicht verleugnen. Dieses Bild sucht noch immer...
Langsam versuche ich meine Augen zu öffnen, denn der Schwebezustand dieser Empfindung, das Bild in unmittelbarer Nähe zu spüren und es nicht anzusehen, wird unerträglich.
Dieses Bild! Dieses Gesicht! Für den gewöhnlichen Sinn des Sehens ist dieses Bild unerreichbar. Für den gewöhnlichen Sinn des Sehens ist es ein Sprung ins Leere...
Dieses Gesicht! Es anzusehen gleicht einem Lauf durch ein Labyrinth, um dann urplötzlich in haltlose Wut auszubrechen über das Nicht-finden-können des Wesentlichen. Nur das Gegenteil und immer wieder das Gegenteil: die endlos gesteigerte Leidenschaft des Verlustes.
Wollte er sich überhaupt von diesem Schmerz befreien? Nein! Ihm war es leichter gefallen, diese Welt zerfallen zu sehen und dann ein Chaos vorzufinden...
Alles ist plötzlich in diese staubtrockenen Farben gehüllt. Farben, die sich langsam zu entfernen scheinen, fortgehen in eine andere Welt... Dürres Grau, ausgetrocknetes Blau und ein Orange das auflodert, als hätte man etwas Brennbares in eine Glut geschüttet. Farben, wie vom berüchtigten Mistral der Provence ausgetrocknet, die sich in die Augen des Betrachters streuen wie Sandkörnchen und den Blick trüben mit emporschießenden Tränen. Und diese ungehaltene Abwehr nimmt der Blick des Gesichtes auf diesem Bild auf: gezackter Zorn der über den Augenbrauen steht, sich ständig ändernd. Und dieses Übermaß an Unbeständigkeit drängt sich im Hintergrund des Bildes: eine eigenartige, nur vorgetäuschte Unsicherheit an der der Betrachter, sich überlegend fühlend, hängen bleibt, unbewusst etwas aufnimmt von diesem geballten Zorn. Und der Blick stolpert, bedrängt vom völlig unerwarteten Blick dieses Gesichtes, der alle Sinne hart anfasst, ihnen das Äußerste abzupressen...
Nein! Nein! Ich will es nicht sehen!
Will nicht sehen, wie er eben noch die Hände auf die Augen gepresst hatte, um die flirrenden Lichtpunkte der grellen Mittagssonne zu vertreiben, um die Tränen auf den Wangen abzuwischen...

Langsam ließ er die Arme fallen. Vor ihm stand auf der Staffelei die blendend weiße Leinwand, auf die durch das weit geöffnete Fenster die Mittagssonne schien, und sie zu einer vibrierenden, unerträglichen Helligkeit machte, die sich weigerte auch nur durch einen einzigen Pinselstrich ihre Reinheit preiszugeben. Er hatte Pinsel und Palette in rasender Wut von sich geschleudert und starrte mit tränenfeuchten, brennenden Augen abwechselnd auf die weiße, unberührte Leinwand und auf den im Sonnenlicht aufleuchtenden Sonnenblumenstrauß in der dunkelblauen Vase. Er sah abwechselnd das fertige Bild, das in ihm bereits vollendet war und die reine Leinwand, die sich ihm verweigerte. Immer intensiver vermischte sich sein Gedankenbild und die hell leuchtende Fläche der Leinwand zu einem sonderbaren Zwitterwesen aus unberührter Reinheit und ungezügeltem Farbenrausch.
Mit einer heftigen Bewegung riss er den Spiegel über der Waschschüssel von der Wand, stellte ihn auf einen Stuhl neben die Staffelei. Sein Spiegelbild! Die leere Leinwand! Und befriedigt fühlte er, es würde ein gnadenloser Kampf werden: er gegen die Reinheit des Lichts! Er wollte, dass das Licht unter dem Druck seiner Pinselstriche gefügig wurde, sich seinem Willen unterwarf, sich fügte, einfügte in die starken Arme seines Könnens, aufgelöst in der Übermacht seiner maßlosen Leidenschaften. Doch es war ein ungleicher Kampf. Denn sein Gegner brauchte nicht zu kämpfen. Es war sein Dunkel das kämpfte, das aus ihm heraus drängte, ausgeschwitzt aus der Hölle der Leidenschaften, um sich in einem Farbenrausch müde zu ringen, um einigermaßen beherrschbar zu werden, um nicht zu werden wie Öl in einer Flamme...
Er nahm einen neuen Pinsel, hob einen Teil der zerbrochenen Palette vom Boden auf: Blau und Grün und ein kleiner Rest flammendes Orange...

Dieses Gesicht!
...das äußerste Endliche:
Das Bild eines endlos gesteigerten Verlustes. Das Bild eines Vereinsamten, eines Verschwenders, der seine Leidenschaften zu einer Größe zusammenzwingt, die man Welt nennen darf.
Doch an einer Stelle ist dieses Endgültige verletzbar, ist es verunsichert, nur scheinbar verborgen. Eine Sollbruchstelle die etwas auseinander hält, offen hält, eine Wendung von Licht nach Schatten: Die Kontur seines leicht geöffneten Mundes. Und das war es, was mich hierher getrieben hatte...
Er hatte über sich hinaus geschaffen, so musste diese Bruchstelle werden. Und sie ist auch eine Grenze, die dem Maßlosen den scheinbaren Überfluss seiner Freiheit genau absteckt.
Er hatte etwas geschaffen vor dem er sich fürchtete, denn dieses Etwas, das sich in seinem Körper fortbewegte wie eine Krankheit, hatte das bewirkt. Und er unterwirft sich, verpfändet sich an diese andere Wahrnehmung mit übergroßen, aber unreifen Sinnen, jene mit dem bitteren Geschmacks des Wahn-Sinns der ihm befahl, seine eigenen Sinne zum Schweigen zu bringen. Ist es denn dieselbe Kraft, die ihm sein Können gegeben hat und die ihn nun langsam zerstörte? Eine Kraft aus ein und demselben Ursprung? Diese Kraft hatte aus ihm einen Flüchtling gemacht, einen Vogelfreien, ein Gesetzloser, der nun weiter ging in einer ungeordneten, gesetzlosen Welt, wo er Verurteilter und Vollstrecker war...

Er betrachtete sein Spiegelbild, lange, sehr lange: waren das Augen, die Ungetrübtes sehen? Er trat vor die Staffelei und setzte den ersten Strich. Er malte mit heftigen, weit ausholenden Bewegungen, rang nach Atem in unglaublicher Anstrengung. Die Ferne zwischen ihm und der Unmöglichkeit das Vollkommene zu erreichen, wollte er dennoch aufbrauchen. Ein Rasender, der gewagt hatte, dorthin zu treten wo er noch keinen Boden sah. Nur so konnte er sehen, was da in ihm aufgewacht war. Nur so konnte er erkennen, welcher Sinn sich ihm als nächster verweigern würde...
Dieses Bild stellte er vor sich hin wie einen Schild, um dieses Entfesselte abfangen zu können, dieses nicht mehr zu überwachende Bewusstsein...
Er hielt inne: Für Augenblicke hatte er eine Verbindung gefühlt, mit einer Stelle in ihm, die ihm völlig unbekannt war! Ihm, der jede Faser seines Wesens mit der dunkelroten Schwere der Leidenschaft durchtränkt hatte, fühlte eine Stelle, an die sich seine Leidenschaften nie gewagt hatten: Das Unauslöschliche, Unzerstörbare? Ein innerster Bereich, über den er nie verfügen würde? Der unangetastet bleibt von jeder Bewegung? Hatte er denn nicht ein Recht darauf? Durch sein Werk? Durch die winzige Spanne Unvergänglichkeit, um die ihn sein Werk überleben würde?

Ich mache einen Schritt nach vorne. Die Menschen bilden eine schmale Gasse. Ganz nahe trete ich an das Bild heran. Dieses Gesicht! Ich hebe meine Hand, bin versucht mit dem Finger die Linie des leicht geöffneten Mundes nachzufahren, möchte es wieder und wieder, bis diese Lippen sich bewegen, sich öffnen, um den Gedanken zu formen, auszusprechen, der in ihm war, da er sich malte... Ich hebe die Hand. Irgendwer zieht drohend die Augenbrauen hoch. Ich hebe die Hand und lege meinen rechten Zeigefinger auf meine heißen ausgetrockneten Lippen. Das Erlebbare hatte er, habe ich ausgekostet... Dieses Gesicht! Diese Augen, die keine Sicherheit mehr fanden im Sichtbaren. Ich presse meine Hand auf den Mund. Entsetzt spüre ich, wie mein Bewusstsein und das Gesicht auf dem Bild aufeinander prallen, sich auflösen, ineinander über gehen, verschmelzen... Ich schlage die Hände vor mein Gesicht. Mein Gesicht? 
Dieses Gesicht! Diese flammend roten Haare und der Bart! Nein! Nein! Ich will es nicht sehen! Nie mehr! 
Hinter mir ist es still. Hatte ich geschrien? Ich weiß es nicht. Oder war er es gewesen? Ich sehe wie er an der Staffelei steht...

Das Hemd klebte ihm am Körper. Seine Schultern hoben und senkten sich rascher und rascher im Rhythmus seines heftigen Atems. Durch das weit geöffnete Fenster wehte unaufhörlich der trockene, heiße Mistral.
Nun der Mund! Er fuhr mit dem linken Zeigefinger am kühlen Glas des Spiegels entlang, fuhr die Linie des Mundes seines Spiegelbildes nach, wieder und wieder, bis die Bewegung des leicht geöffneten Mundes seinen ganzen Körper durchströmte und er diese Kraft in das Bild hinein nahm: ein Riss, eine offene Stelle, eine Bruchstelle, die das Gesicht zu einer Form machte, die im Begriff war zu bersten, um dem bereits zersprungenem Inneren Platz zu machen. Eine Sollbruchstelle.
Er hielt inne, legte Pinsel und Palette zur Seite, sah auf die Leinwand, die im gleißenden Licht der Mittagssonne stand: Ja, ja das war er! Er hatte es geschafft! Er hatte ihn festgehalten diesen Gedanken, hatte das Unfassbare eingegrenzt, damit es seine Stunde abwarten konnte, die er ihr nicht mehr zu geben im Stande war...
Dieses Gesicht! Diese, durch das Auseinanderbersten seines Inneren, metallisch aufblitzenden Augen, spiegeln heimatlose Kräfte wider. Das Unauslöschliche? Hier nun musste ein neuer, anderer Wille einsetzen, um über die Grenze treten zu können... Er stand mit hängenden Armen, abwartend. Hier endete der Strom, der ihm die Möglichkeiten zugetragen hatte...

Ich stehe und warte. Stehe mit hängenden Armen.
Langsam drehe ich mich um, sehe die Menschen vor mir. Sie weichen kaum merklich zurück. Wortfetzen: Werbegag, Action Art, ein Verrückter...
Ich gehe unsicher Schritt für Schritt, als müsste ich wie nach langer Zeit erst wieder das Gehen lernen, gehe vorbei an den Menschen, an den zahlreichen Gemälden, in deren spiegelndem Glas ich meine gebückte Gestalt und mein Gesicht sehen konnte:
Dieses Gesicht! Diese Augen! Diese flammend roten Haare und der Bart!

 

 


BleistiftZurückZum AnfangVorwärtsBleistiftportrait